Die Mondmotte

Das Hausboot war nach den strengsten Vorschriften sirenesischer Handwerkskunst gebaut, also mit solch absoluter Perfektion, daß kein menschliches Auge auch nur die geringste Unregelmäßigkeit erkennen konnte. Die Planken aus gewachstem, dunklem Holz zeigten keine Fugen, die Beschläge waren aus Platin gefertigt, ins Holz versenkt und glatt poliert. Was den Stil anging, so war das Boot massiv, breit und beständig wie das Ufer selbst, ohne behäbig zu sein. Der Bug wölbte sich vor wie die Brust eines Schwans, der Schiffschnabel reckte sich steil in die Höhe und bog sich dann nach vorne, so daß man eine eiserne Laterne an ihm aufhängen konnte. Die Türen waren aus schwarz geflecktem, grünem Holz geschnitten, die Fenster vielfach aufgeteilt und mit Glimmerscheiben verglast, die rosa, blau, blaßgrün und violett eingefärbt waren. Der Bug diente den Versorgungseinrichtungen und bot den Sklaven Quartier; mittschiffs gab es zwei Schlafkabinen, einen Speisesalon und einen weiteren Salon, der in das Beobachtungsdeck am Heck überging.

Solcher Art war Edwer Thissells Hausboot, aber sein Besitz verschaffte ihm weder Stolz noch Vergnügen. Das Hausboot war schäbig geworden. Der Teppich war zerschlissen, die geschnitzten Wände abgewetzt, die eiserne Laterne am Bug verrostet. Vor sechzig Jahren hatte der erste Besitzer, als er das Boot in Empfang nahm, dem Erbauer Ehre erwiesen, und seinerseits Ehre empfangen; die Transaktion (denn dies war ein Vorgang, der viel weiter ging als bloßes Geben und Nehmen) hatte das Prestige beider gesteigert. Aber jene Zeit war dahin; das Hausboot vermittelte jetzt keinerlei Prestige mehr. Edwer Thissell, erst seit drei Monaten Bewohner von Sirene, spürte das, konnte aber nichts dagegen tun: dieses spezielle Hausboot war das beste, das er bekommen konnte. Er saß auf dem Hinterdeck und übte die Ganga, ein zitherähnliches Instrument, nicht viel größer als seine Hand. Hundert Meter entfernt war ein Streifen weißer Strand hinter der Brandung zu erkennen; dahinter erhob sich der Dschungel, eingebettet in die Silhouette gezackter, schwarzer Berge, die gegen den Himmel aufragten. Mireille schien dunstig und weiß vom Himmel, als hätte man ein Spinnennetz davorgezogen; das Antlitz des Ozeans hatte den Glanz von Perlmutt. Die Szene war ebenso vertraut, wenn auch nicht so langweilig wie die Ganga gewesen, mit der er sich jetzt seit zwei Stunden befaßte, indem er immer wieder die sirenesischen Tonleitern zupfte, Akkorde bildete und einfache Tonfolgen spielte. Jetzt legte er die Ganga hin und vertauschte sie mit dem Zachinko, dabei handelte es sich um ein kleines, mit Tasten versehenes Instrument, das man mit der rechten Hand spielte. Wenn man auf die Tasten ruckte, wurde Luft durch Röhren gedrückt, die sich in den Tasten selbst befanden, was einen akkordeonähnlichen Klang erzeugte. Thissell spielte schnell hintereinander ein Dutzend Tonleitern und machte dabei nur wenige Fehler. Von den sechs Instrumenten, die zu lernen er sich vorgenommen hatte, hatte der Zachinko sich am wenigsten widerspenstig erwiesen (ausgenommen natürlich das Hymerkin, jenes klappernde, polternde Gerät aus Holz und Stein, das man ausschließlich für die Verständigung mit Sklaven benutzte).

Thissell übte noch zehn Minuten und legte dann den Zachinko beiseite. Er beulte die Arme, bewegte die schmerzenden Finger. Er hatte seit seiner Ankunft jeden Augenblick, den er nicht geschlafen hatte, mit den Instrumenten verbracht: dem Hymerkin, der Ganga, dem Zachinko, dem Kiv, dem Strapan und dem Gomapard. Er hatte Tonleitern in neunzehn Tonarten und vier Tempi geübt, Akkorde ohne Zahl, Intervalle, wie man sie auf den Heimatplaneten nicht einmal erahnte. Triller, Arpeggios, Glissandos; Klick-und Nasaltöne; das Dämpfen und Vermehrung von Obertönen; Vibratos und Wolfstöne; Konkavitäten und Konvexitäten. Er übte mit einer hartnäckigen, verbissenen Intensität, in der seine ursprüngliche Vorstellung, die Musik als Quelle des Vergnügens betrachtete, schon lange in Vergessenheit geraten war. Thissell warf einen Blick auf die Instrumente und widerstand dem Drang, alle sechs in den Titanik zu werfen.

Er stand auf, ging durch den Salon, den Speisesaal, durch einen Korridor, an der Kombüse vorbei und kam schließlich auf dem Vorderdeck heraus. Er beugte sich über die Reling und blickte in die Unterwasserpferche, wo Toby und Rex, die Sklaven, die Schleppfische für die wöchentliche Fahrt nach Fan, acht Meilen im Norden, anschirrten. Der jüngste Fisch, entweder verspielt oder unruhig, duckte sich und sprang. Seine schwarze Schnauze stieß aus dem Wasser, und Thissell, der ihm ins Gesicht blickte, empfand den Anblick seltsam peinlich: der Fisch trug keine Maske!

Thissell lachte verlegen und betastete seine eigene Maske: die Mondmotte. Ohne Zweifel, er fing an, sich auf Sirene zu akklimatisieren! Die Tatsache, daß das nackte Gesicht eines Fisches ihn schockierte, ließ erkennen, daß er ein bemerkenswertes Stadium ereicht hatte!

Endlich waren die Fische angeschirrt; Toby und Rex kletterten an Bord, ihre roten Körper glänzten, und die schwarzen Tuchmasken klebten an ihren Gesichtern. Ohne sich um Thissell zu kümmern, verstauten sie den Pferch und zogen den Anker hoch. Die Zugfische legten sich ins Geschirr, das sich spannte, und das Hausboot setzte sich in nördlicher Richtung in Bewegung.

Thissell kehrte aufs Achterdeck zurück und nahm den Strapan – dabei handelte es sich um ein ringförmiges Instrument von acht Zoll Durchmesser. Sechsundvierzig Drähte gingen von einer Nabe in der Mitte aus und führten zum Rand des Instruments, wo sie entweder mit einer Glocke oder einer kleinen Stange verbunden waren. Wenn man an den Drähten zupfte, schlugen die Glocken an, und die Stäbe ertönten; strich man das Instrument, so gab es ein pfeifendes, klirrendes Geräusch von sich. Wenn ein Virtuose es spielte, erzeugten die angenehm schrillen Dissonanzen eine sehr ausdrucksstarke Wirkung; in ungeübter Hand war der Klang weniger angenehm, fast könnte man sagen, dann wurde nur Lärm erzeugt. Der Strapan war für Thissell das schwierigste Instrument, und er übte während der ganzen Fahrt nach Norden konzentriert daran.

Nach einiger Zeit näherte sich das Hausboot der schwimmenden Stadt. Die Zugfische wurden losgeschirrt, das Hausboot an der Mole vertäut. Am Dock musterten ein paar Müßiggänger das Hausboot, die Sklaven und Thissell selbst prüfend, wie es auf Sirene Sitte ist. Thissell, der eine solch intensive Musterung noch nicht gewöhnt war, fand sie unangenehm, um so mehr wegen der Unbeweglichkeit der Masken. Er schob sich verlegen seine eigene Mondmotte zurecht und kletterte über die Leiter auf die Pier hinunter.

Ein Sklave, der dort gehockt hatte, erhob sich, legte die Knöchel an das schwarze Tuch, das seine Stirn bedeckte, und sang fragend: »Die Mondmotte vor mir drückt vielleicht die Identität von Ser Edwer Thissell aus?«

Thissell schlug an das Hymerkin, das an seinem Gürtel hing, und sang: »Ich bin Ser Thissell.«

»Ein Vertrauen hat mich geehrt«, sang der Sklave. »Drei Tage habe ich von der Morgendämmerung bis zum Abend an der Pier gewartet, drei Nächte von Sonnenuntergang bis zur Morgendämmerung habe ich mich auf ein Floß unter dieser Pier hier gekauert und den Füßen der Nachtmänner gelauscht. Endlich erblicke ich die Maske von Ser Thissell.«

Thissell entlockte dem Hymerkin ein paar ungeduldige Töne. »Welcher Art ist dieses Vertrauen?« »Ich trage eine Botschaft, Ser Thissell. Die ist für Euch bestimmt.« Thissell streckte die linke Hand aus und schlug mit der

rechten das Hymerkin an. »Gib mir die Botschaft.« »Sofort, Ser Thissell.« Auf der Botschaft stand in großen Lettern:

DRINGENDE MITTEILUNG! EILT!

Thissell riß den Umschlag auf. Die Nachricht war von Castel Cromartin, dem geschäftsführenden Direktor des Ausschusses für Interwelt-Politik, unterzeichnet und lautete nach der förmlichen Grußfloskel:

ABSOLUT DRINGEND, daß die folgenden Anweisungen ausgeführt werden! An Bord der Carina Cruzeiro, Bestimmungsort Fan, Ankunftsdatum 10. Januar U.T. befindet sich der notorische Meuchelmörder Haxo Angmark. Halten Sie sich bei der Landung mit entsprechenden Vollmachten bereit und veranlassen Sie, daß dieser Mann festgenommen und eingekerkert wird. Diese Anweisungen müssen erfolgreich durchgeführt werden. Ein Mißerfolg kann nicht akzeptiert werden.

ACHTUNG! Haxo Angmark ist in höchstem Grade gefährlich. Töten Sie ohne zu zögern, falls er auch nur den geringsten Widerstand leistet.

Thissell musterte die Mitteilung verärgert. Als er als konsularischer Vertreter nach Fan gekommen war, hatte er nichts dergleichen erwartet; er verspürte weder Neidung noch hielt er sich für befähigt, mit gefährlichen Meuchelmördern umzugehen. Er rieb sich nachdenklich die flaumige, graue Wangenpartie seiner Maske. Die Situation war nicht völlig undurchschaubar; Esteban Rolver, der Direktor des Raumhafens, würde ihn ohne Zweifel unterstützen und vielleicht sogar einen Zug Sklaven zur Verfügung stellen.

Etwas hoffnungsvoller las Thissell die Nachricht ein zweitesmal. Zehnter Januar, Universal-Zeit. Er warf einen Blick auf seinen Umrechnungskalender. Heute war der 40. in der Zeit des Bitteren Nektars – Thissell fuhr mit dem Finger die Spalten hinunter und hielt inne. Zehnter Januar. Heute!

Ein fernes Dröhnen erweckte seine Aufmerksamkeit. Ein stumpf leuchtendes Gebilde senkte aus dem Nebel herab; der Leichter, der von der Carina Cruzeiro aus dem Orbit zurückkehrte.

Thissell las die Nachricht ein drittesmal, hob den Kopf und studierte den landenden Leichter. Haxo Angmark würde an Bord sein. In fünf Minuten würde er den Boden Sirenes betreten. Die Landeformalitäten würden ihn vielleicht noch zwanzig Minuten beanspruchen. Das Landefeld war eineinhalb Meilen entfernt und mit Fan durch einen gewundenen Weg durch die Berge verbunden.

Thissell wandte sich dem Sklaven zu. »Wann ist diese Nachricht eingetroffen?«

Der Sklave beugte sich verständnislos vor. Thissell wiederholte seine Frage, indem er zu den Klängen des Hymerkin sang: »Diese Nachricht: wie lange hast du die Ehre genossen, sie in deinem Gewahrsam zu halten?«

Der Sklave sang: »Lange Tage habe ich an der Mole gewartet und bin nur, wenn die Abenddämmerung einsetzte, auf das Floß zurückgekehrt. Jetzt wird meine Wache belohnt; ich erblicke Ser Thissell.«

Thissell wandte sich ab und ging gereizt die Pier entlang. Diese tölpelhaften Sirenesen! Warum hatten sie ihm die Nachricht nicht auf sein Hausboot gebracht? Fünfundzwanzig Minuten – zweiundzwanzig jetzt…

An der Esplanade blieb Thissell stehen und blickte zuerst nach rechts, dann nach links, erhoffte ein Wunder: irgendeine Fluggelegenheit, die ihn zum Raumhafen bringen würde, wo er mit Rolvers Hilfe vielleicht immer noch Haxo Angmark würde festhalten können.

Oder, noch besser, eine zweite Nachricht, die die erste widerrief. Etwas, irgend etwas… aber auf Sirene gab es keine Luftwagen, und es kam auch keine zweite Nachricht.

Auf der Esplanade erhob sich eine armselige Reihe fester Bauten aus Stein und Eisen, und somit den Angriffen der Nachtmenschen gewachsen. In einem der Gebäude war ein Stallknecht, und während Thissell noch sein Haus beobachtete, kam ein Mann in einer herrlichen Maske aus Perlmutt und Silber heraus; er ritt eines der echsenähnlichen Reittiere von Sirene.

Thissell sprang vor. Noch war Zeit; wenn er Glück hatte, würde er Haxo Angmark immer noch aufhalten können. Er eilte über die Esplanade.

Vor den Pferchen stand der Stallknecht und musterte seine Tiere, wobei er gelegentlich ein Insekt wegscheuchte. Insgesamt hatte er fünf Tiere, die sich alle in erstklassiger Form befanden; jedes war so groß wie ein Mensch, hatte massive Beine, einen dicken Körper und einen schweren, keilförmigen Kopf. Von ihren Vorderfängen, die man künstlich verlängert und halbkreisförmig gebogen hatte, hingen goldene Ringe; die Schuppen waren rautenförmig gefärbt: purpur und grün, orange und schwarz, rot und blau, braun und rosa, gelb und silber.

Thissell kam vor dem Stallknecht atemlos zum Stillstand. Er griff nach seinem Kiv* und zögerte. War es richtig, dies als ein beiläufiges, persönliches Zusammentreffen zu betrachten? Der Zachinko vielleicht? Aber die Darstellung seiner Bedürfnisse schien keine formelle Annäherung zu erfordern. Besser doch den Kiv. Er schlug einen Akkord an und bemerkte zu spät, daß er versehentlich die Ganga benutzt hatte. Thissell grinste;

um Nachsicht bittend, unter seiner Maske; seine Beziehung zu diesem Stallknecht war keineswegs intimer Natur. Er hoffte, daß der Stallknecht dem Wesen nach gutmütig war. Außerdem war die Situation so dringlich, daß keine Zeit war, ein genau passendes Instrument auszuwählen. Er schlug einen zweiten Akkord an und sang seine Frage, wobei er so gut spielte, wie seine Erregung, seine Atemlosigkeit und sein mangelhaftes Geschick im Umgang mit dem Instrument es erlaubten: »Ser Stallknecht, ich benötigte sofort ein schnelles Reittier. Erlaubt mir, eines aus Eurer Herde auszuwählen.«

Der Stallknecht trug eine höchst komplizierte Maske, die Thissell nicht identifizieren konnte: eine Konstruktion aus gefärbtem braunen Tuch, gefälteltem grauen Leder und hoch auf der Stirn zwei große, scharlachrot und grün gefärbte Kugeln mit winziger Facettierung, wie Insektenaugen. Er musterte Thissell lange, wählte dann ziemlich ostentativ sein

* Kiv: Fünf Reihen elastischer Metallstreifen, vierzehn pro Reihe, die man zum Erklingen bringt, indem man sie berührt, verdreht oder zupft.

Stimic* , entlockte ihm eine virtuose Folge von Trillern und Akkorden, deren Bedeutung Thissell nicht begriff, und sang: »Ser Mondmotte, ich fürchte, meine Tiere sind für eine Person von Eurer Bedeutung ungeeignet.«

Thissell zupfte dringlich an seiner Ganga. »Keineswegs, sie scheinen mir alle passend. Ich bin in großer Eile und gerne bereit, jedes Tier aus der Gruppe anzunehmen.«

Der Stallknecht spielte ein schrill ansteigendes Crescendo. »Ser Mondmotte«, sang er, »unsere Tiere sind krank und schmutzig. Ich fühle mich geschmeichelt, daß Ihr sie für Eure Zwecke gebrauchen wollt. Ich kann Euer Angebot nicht annehmen. Und« – hier vertauschte er die Instrumente und schlug auf seinem Krodatch** einen schrillen Ton an – »irgendwie vermag ich den Freund und Berufskollegen nicht zu erkennen, der mich so vertraulich mit seiner Ganga anspricht.«

Es war klar, was er damit andeuten wollte. Thissell würde kein Reittier erhalten. Er wandte sich um und fing an, auf das Landefeld zuzulaufen. Hinter ihm war das Hymerkin des Stallknechtes zu hören – ob sein Klang nun für die Sklaven des Stallknechtes oder für ihn bestimmt war, würde Thissell nie erfahren, weil er sich nicht die Zeit nahm, stehenzubleiben.

* Stimic: Drei flötenähnliche Rohre mit Ventilen. Vermittels Daumen und Zeigefinger wird ein Luftsack gedrückt, um Luft über die Mundstücke zu treiben; die drei anderen Finger betätigen den Schieber. Das Stimic ist ein Instrument, das sich gut für Gefühle kühler Zurückhaltung, ja sogar Mißbilligung, eignet.

** Krodatch: Ein kleines, rechteckiges Kästchen, das mit Darmsaiten bespannt ist. Der Musikant kratzt die Saiten mit dem Fingernagel oder streicht sie mit den Fingerspitzen, um eine Vielzahl leiser, formeller Töne zu erzeugen. Der Krodatch wird auch als Instrument der Beleidigung benutzt.

Der letzte konsularische Vertreter des Heimatplaneten auf Sirene war in Zundar getötet worden. Als Kneipenheld maskiert, hatte er ein Mädchen angesprochen, das bereits die Bänder der Äquinoktial-Feiern trug, eine Verfehlung, auf die hin er sofort von einem Roten Demiurgus, einem Sonnenkobold und einer Magischen Hornisse geköpft worden war. Edwer Thissell, der erst kürzlich die Prüfung am Institut absolviert hatte, war zu seinem Nachfolger ernannt worden; man hatte ihm drei Tage Zeit gelassen, sich zu präparieren. Thissell, der normalerweise von vorsichtiger Sinnesart war, hatte die Ernennung als Herausforderung angesehen. Er hatte die Sprache von Sirene vermittels subzerebraler Techniken erlernt und sie als unkompliziert empfunden. Dann las er im

Journal für universelle Anthropologie:

Die Bevölkerung der Küsten des Titanik ist von höchst individualistischer Art, wahrscheinlich infolge einer besonders freigebigen natürlichen Umgebung, die keine Gruppenaktivitäten erfordert. Dieser Eigenart entsprechend, drückt die Sprache die Laune des Individuums, seine emotionelle Haltung angesichts einer bestimmten Situation, aus. Faktische Informationen werden als nur zweitrangig angesehen. Außerdem wird die Sprache gesungen, im charakteristischen Falle von einem kleinen Instrument begleitet. Dies führt dazu, daß es sehr schwierig ist, von einem Eingeborenen von Fan oder der verbotenen Stadt Zundar genaue Auskunft zu erhalten. Vielmehr muß man damit rechnen, elegante Arien und Demonstrationen erstaunlicher Virtuosität auf einer Vielzahl von Musikinstrumenten zu hören. Der Besucher dieser faszinierenden Welt muß daher lernen, sich in der dort üblichen Art und Weise auszudrücken, will er vermeiden, mit großer Verachtung behandelt zu werden.

Thissell machte sich eine Notiz: Kleines Musikinstrument und Gebrauchsanweisung beschaffen. Er las weiter:

Überall und zu jeder Zeit steht ein reichliches Angebot, um nicht zu sagen, ein Überfluß an Nahrung zur Verfügung, und das Klima ist höchst angenehm. Erfüllt von großer Energie und mit viel Muße gesegnet, befaßt die Bevölkerung sich mit Feinheiten: Feinheiten in allen Dingen; einer ausgeklügelten Handwerkskunst, wie beispielsweise geschnitzten Paneelen, die ihre Hausboote schmücken; feinster Symbolik, wie sie beispielsweise die Masken zeigen, die alle tragen; der komplizierten, halb musikalischen Sprache, die in bewundernswerter Weise subtile Stimmungen und Gefühle auszudrücken vermag, und mehr als alles andere die fanatische Feinheit der persönlichen Beziehungen. Prestige, Gesicht, Mana, Ruf, Ruhm: das sirenesische Wort ist Strakh. Jeder Mann hat sein charakteristisches Strakh, welches bestimmt, ob er, wenn er ein Hausboot benötigt, bedrängt werden wird, sich eines schwimmenden Palastes zu bedienen, geschmückt mit Juwelen, Alabasterlaternen, Fayencen und geschnitztem Holz, oder ob man ihm widerstrebend eine elende Hütte auf einem Floß zubilligt. Es gibt kein offizielles Tauschmittel auf Sirene; die eine und einzige Währung ist

Strakh…

Man trägt stets Masken, das steht in Einklang mit der Philosophie, daß kein Mensch gezwungen werden sollte, ein Äußeres zu zeigen, das ihm Faktoren aufgezwungen haben, über die er keine Kontrolle hat; er sollte die Möglichkeit besitzen, jene Ähnlichkeit auszuwählen, die seinem Strakh am besten entspricht. In den zivilisierten Regionen von Sirene – also den Küstengebieten der Titanik – zeigt ein Mann sein Gesicht buchstäblich nie; es ist sein wesentlichstes Geheimnis.

Demzufolge ist jegliches Glücksspiel auf Sirene unbekannt; es wäre für die Selbstachtung eines Sirenesen katastrophal, sich durch andere Mittel als die Ausübung von Strakh Vorteile zu verschaffen. Das Wort ›Glück‹ hat in der Sprache von Sirene keine Entsprechung.

Thissell machte sich eine weitere Notiz: Maske beschaffen. Museum? Schauspielergewerkschaft?

Er beendete seine Lektüre des Artikels, beeilte sich, seine Vorbereitungen abzuschließen, und schiffte sich am nächsten Tage auf der Robert Astroguard zur ersten Etappe seiner Reise nach Sirene ein.

Der Leichter landete auf dem Raumhafen von Sirene, eine Topas-Scheibe, isoliert inmitten der schwarzen, grünen und purpurfarbenen Berge. Der Leichter setzte auf, und Edwer Thissell trat vor. Esteban Rolver, der Agent für Spaceways, erwartete ihn. Rolver warf die Hände hoch und trat zurück. »Ihre Maske«, rief er erschreckt. »Wo ist Ihre Maske?«

Thissell hob sie etwas verlegen. »Ich war gar nicht sicher…«

»Setzen Sie sie auf!« sagte Rolver und wandte sich ab. Er selbst trug ein Gebilde aus mattgrünen Schuppen und blau lackiertem Holz. An den Wangen traten schwarze Borsten hervor, und unter seinem Kinn hing eine schwarzweiß gefleckte Quaste, was insgesamt den Eindruck einer zynischen Persönlichkeit erweckte.

Thissell rückte sich die Maske vor dem Gesicht zurecht und war unschlüssig, ob er einen Witz machen oder sich der Würde seines Amtes entsprechend reserviert verhalten sollte.

»Sind Sie maskiert?« erkundigte sich Rolver über die Schulter.

Thissell bejahte die Frage, und Rolver drehte sich um. Die Maske verbarg seinen Gesichtsausdruck, aber seine rechte Hand betätigte ein paar Tasten an seiner Hüfte. Das Instrument gab einen Triller von sich, der Schock und höfliche Verblüffung ausdrückte. »Die Maske können Sie nicht tragen!« sang Rolver. »Sagen Sie – wo, wie, haben Sie sie bekommen?«

»Das ist die Kopie einer Maske aus dem Museum von Polypolis«, erklärte Thissell etwas gereizt. »Ich bin sicher, daß sie authentisch ist.«

Rolver nickte, was den Ausdruck seiner Maske noch zynischer erscheinen ließ. »Freilich ist sie authentisch. Das ist eine Abwandlung des Typs, den man als ›Seedrachen-Eroberer‹ bezeichnet, sie wird bei zeremoniellen Anlässen von Personen von ungeheurem Prestige getragen: Fürsten, Helden, Meisterhandwerker, große Musiker!«

»Mir war nicht bewußt…«

Rolver machte eine verständnisvolle Handbewegung. »Sie werden das nach einiger Zeit begreifen. Sehen Sie meine Maske. Heute trage ich einen Tarnvogel. Personen von geringem Prestige – so wie Sie, ich und jeder andere Außenweltler – tragen so etwas.«

»Seltsam«, sagte Thissell, als sie über das Feld auf ein niedriges Betonblockhaus zugingen. »Ich nahm an, jeder könnte jede beliebige Maske tragen.«

»Sicher«, sagte Rolver. »Sie können jede Maske tragen, die Sie wollen – wenn Sie es durchsetzen. Dieser Tarnvogel zum Beispiel. Ich trage die Maske, um anzudeuten, daß ich mir nichts anmaße. Ich behaupte nicht, Weisheit, Wildheit, Vielseitigkeit, Musiktalent oder ein Dutzend anderer sirenesischer Tugenden zu besitzen.«

»Nur interessehalber«, sagte Thissell, »was würde geschehen, wenn ich in dieser Maske durch die Straßen von Zundar ginge?«

Rolver lachte, ein halbersticktes Geräusch hinter seiner Maske. »Wenn Sie in irgendeiner Maske über die Piers von Zundar gingen – Straßen gibt es nicht –, würde man Sie innerhalb einer Stunde töten. Das ist es, was Benko, Ihrem Vorgänger, widerfahren ist. Er wußte nicht, wie man sich verhält. Keiner von uns Außenweltlern weiß, wie man sich korrekt verhält. In Fan duldet man uns – so lernen wir uns nichts anmaßen, was uns nicht zusteht. Aber in dem Aufzug könnten Sie nicht einmal in Fan herumlaufen. Jemand mit einer Feuerschlange oder einem Donnerkobold – Masken, müssen Sie wissen – würde auf Sie zutreten. Er würde seinen Krodatch spielen, und wenn Sie seine Frechheit nicht mit einer Passage auf dem Skaranyi* erwiderten, einem teuflischen Instrument, würde er sein Hymerkin spielen – das Instrument, das wir für die Sklaven benutzen. Das ist der Ausdruck höchster Verachtung. Oder er könnte seinen Duellgong schlagen und Sie sofort angreifen.«

»Ich hatte keine Ahnung, daß die Leute hier so reizbar sind«, sagte Thissell halblaut.

Rolver zuckte die Achseln und öffnete die mächtige Stahltür, die in sein Büro führte. »Auf der Promenade von Polypolis darf man auch gewisse Dinge nicht tun, ohne sich der Kritik auszusetzen.«

»Ja, das ist richtig«, sagte Thissell. Er sah sich in dem Büro um. »Warum diese Sicherheitsvorkehrungen? Der Beton, der Stahl?«

* Skaranyi: Ein Miniatur-Dudelsack; man drückt den Sack zwischen Daumen und Handfläche, und die vier Finger betätigen Löcher an vier Rohren.

»Schutz gegen die Wilden«, sagte Rolver. »Sie kommen nachts von den Bergen herunter und stehlen, was nicht nietund nagelfest ist, und töten jeden, den sie an Land finden.« Er trat an einen Schrank und entnahm ihm eine Maske. »Hier. Nehmen Sie diese Mondmotte; mit der bekommen Sie keine Schwierigkeiten.«

Thissell musterte die Maske ohne große Begeisterung. Sie bestand aus mausgrauem Pelz; zu beiden Seiten der Mundöffnung waren Haarbüschel angebracht, und an der Stirne ein paar federähnliche Antennen. Weiße, spitzenbesetzte Lappen hingen neben den Schläfen herunter, und unter den Augen waren ein paar rote Falten. Das Ganze wirkte recht komisch.

Thissell fragte: »Drückt diese Maske irgendwelches Prestige aus?«

»Nicht sehr viel.«

»Ich bin schließlich konsularischer Vertreter«, sagte Thissell. »Ich vertrete die Heimatplaneten, einhundert Milliarden Menschen…«

»Wenn die Heimatplaneten wollen, daß Ihr Vertreter eine Seedrachen-Eroberer-Maske trägt, sollten sie einen Seedrachen-Eroberer-Typ schicken.«

»Ich verstehe«, sagte Thissell kleinlaut. »Nun, wenn ich muß…«

Rolver wandte höflich den Blick ab, während Thissell den Seedrachen-Eroberer abnahm und sich die bescheidenere Mondmotte über den Kopf zog. »Ich nehme an, ich kann in einem der Geschäfte etwas Passenderes finden«, sagte Thissell. »Ich habe gehört, man geht einfach hinein und nimmt sich, was man braucht, stimmt das?«

Rolver sah Thissell kritisch an. »Diese Maske ist – zumindest für den Augenblick – völlig ausreichend. Und es ist ziemlich wichtig, nichts aus den Läden zu nehmen, so lange Sie den Strakh-Wert des Artikels, den Sie haben möchten, nicht kennen. Der Besitzer verliert Prestige, wenn eine Person von niedrigem Strakh sich Freiheiten hinsichtlich seiner besten Arbeiten herausnimmt.«

Thissell schüttelte verzweifelt den Kopf. »Man hat mir nichts von alledem erklärt! Ich wußte natürlich von den Masken und von der mühsamen Handwerkskunst der Leute hier, aber dieses Beharren auf Prestige – Strakh, oder wie das heißt…«

»Macht nichts«, sagte Rolver. »Nach ein oder zwei Jahren werden Sie anfangen, sich hier zurechtzufinden. Ich nehme an, Sie sprechen die hiesige Sprache?«

»Oh, ja. Sicher.«

»Und welche Instrumente spielen Sie?«

»Nun – man hat mir gesagt, jedes kleine Instrument sei ausreichend, es würde auch genügen, wenn ich nur singe.«

»Sehr ungenau. Nur Sklaven singen ohne Begleitung. Ich schlage vor, daß sie die folgenden Instrumente so schnell wie möglich erlernen: Das Hymerkin für Ihre Sklaven. Die Ganga für Gespräche zwischen intimen Bekannten oder mit jemandem, dessen Strakh eine Spur unter dem Ihren steht. Den Kiv für beiläufige, höfliche Gespräche. Den Zachinko für formellere Anlässe. Den Strapan oder den Krodatch für gesellschaftlich Unterlegene – in Ihrem Falle, sofern Sie jemanden beleidigen wollen. Das Gomapard* oder den Doppel-Kamanthil** für zeremonielle Anlässe.« Er dachte einen Augenblick lang nach. »Die Crebarin, die Wasserlaute und der Slobo sind auch sehr nützlich – aber vielleicht sollten

* Gomapard: Eines der wenigen elektrischen Instrumente, die auf Sirene benutzt werden. Ein Oszillator erzeugt einen oboenähnlichen Ton, der mit vier Tasten moduliert, gedämpft oder angehoben wird. ** Doppel-Kamanthil: Ein Instrument ähnlich der Ganga, nur daß die Töne erzeugt werden, indem eine Scheibe aus Leder, die mit Harz getränkt ist, gegen eine oder mehr der sechsundvierzig Saiten gedrückt wird.

Sie zuerst die anderen Instrumente erlernen. Dann sind Ihnen wenigstens rudimentäre Gespräche möglich.«

»Übertreiben Sie nicht etwas?« fragte Thissell. »Oder machen Sie sich lustig?«

Rolver lachte breit. »Ganz und gar nicht. Zuallererst brauchen Sie ein Hausboot. Und dann natürlich Sklaven.«

Rolver führte Thissell vom Landefeld zu den Docks von Fan, ein Spaziergang von eineinhalb Stunden auf einem angenehmen Weg unter riesigen Bäumen, die mit Früchten wie Getreideschoten und Säcken voll zuckerartigem Saft behängt waren.

»Im Augenblick gibt es in Fan nur vier Außenweltler«, sagte Rolver, »Sie eingeschlossen. Ich bringe Sie zu Welibus, das ist unser Handelsfaktor. Ich nehme an, daß er ein altes Hausboot hat, das er Ihnen überlassen kann.«

Cornely Welibus lebte seit fünfzehn Jahren in Fan und hatte sich genügend Strakh erworben, um seine Südwindmaske unangefochten tragen zu können. Sie bestand aus einer blauen Scheibe, in die Lapislazuli eingelegt und die von schimmernder Schlangenhaut gesäumt war. Er war herzlicher als Rolver und stellte Thissell nicht nur ein Hausboot, sondern auch ein Dutzend verschiedener Musikinstrumente sowie zwei Sklaven zur Verfügung.

Die Großzügigkeit war Thissell peinlich, und er stammelte etwas von Bezahlung, aber Welibus brachte ihn mit einer großzügigen Geste zum Schweigen. »Mein lieber Freund, dies hier ist Sirene, solche Belanglosigkeiten kosten nichts.«

»Aber ein Hausboot…«

Welibus spielte eine höfliche kleine Kadenz auf seinem Kiv. »Ich will offen zu Ihnen sein, Ser Thissell. Das Boot ist alt und ein wenig schäbig. Ich kann es mir nicht leisten, es zu benutzen; mein Status würde leiden.« Eine Melodie begleitete seine Worte. »Sie brauchen sich im Augenblick noch keine Gedanken bezüglich Ihres Status zu machen. Sie benötigen nur eine Unterkunft, Bequemlichkeit und Schutz vor den Nachtmännern.«

»Nachtmännern?«

»Das sind die Kannibalen, die nach Einbruch der Dunkelheit am Ufer entlangstreifen.«

»O ja. Ser Rolver erwähnte sie.«

»Schreckliche Geschöpfe. Wir wollen nicht über sie sprechen.« Ein erschreckter kleiner Triller erklang aus seinem Kiv. »Jetzt zu den Sklaven.« Er tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger an die blaue Scheibe seiner Maske. »Rex und Toby sollten Ihnen gute Dienste leisten können.« Er hob seine Stimme und spielte ein paar Noten auf dem Hymerkin. »Avan esx trobu!«

Eine Sklavin, die in eng anliegende Bänder aus rosafarbenem Tuch gehüllt war, und eine schwarze Maske mit Perlmuttpailletten trug, erschien.

»Fascu etz Rex ae Toby.«

Rex und Toby erschienen. Sie trugen locker anliegende, schwarze Tuchmasken und rotbraune Jacken. Welibus sprach sie mit einer Melodie auf seinem Hymerkin an und verpflichtete sie zum Dienste für ihren neuen Herrn, bei Strafe, auf ihre Heimatinsel zurückkehren zu müssen. Sie warfen sich zu Boden und sangen Thissell mit weichen Stimmen Gelöbnisse treuen Dienstes zu. Thissell lachte nervös und versuchte, einen Satz in der sirenesischen Sprache. »Geht zum Hausboot, säubert es gut und bringt Essen an Bord.«

Toby und Rex starrten ihn ausdruckslos durch die Löcher ihrer Masken an. Welibus wiederholte die Befehle mit Hymerkin-Begleitung. Die Sklaven verneigten sich und gingen.

Thissell musterte die Musikinstrumente verstört. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich es anstellen soll, das Spielen dieser Dinger zu lernen.«

Welibus wandte sich zu Rolver. »Wie wäre es mit Kershaul? Könnte man ihn überreden, Ser Thissell einige Grundkenntnisse zu vermitteln?«

Rolver nickte nachdenklich: »Ja, Kershaul könnte das machen.«

Thissell fragte: »Wer ist Kershaul?«

»Der Dritte in unserer kleinen Schar«, erwiderte Welibus, »ein Anthropologe. Haben Sie Glänzendes Zundar gelesen? Die Rituale von Sirene? Volk ohne Gesicht? Nein? Schade. Alles ausgezeichnete Werke. Kershaul genießt hohes Prestige und besucht, glaube ich, Zundar von Zeit zu Zeit. Er trägt eine Höhleneule, manchmal einen Sternenwanderer, oder sogar einen Weisen Gebieter.«

»In letzter Zeit trägt er eine Äquatorialschlange«, sagte Rolver. »Die Variante mit den goldenen Hauern.«

»Wahrhaftig!« staunte Welibus. »Nun, ich muß sagen, er hat es sich verdient. Ein guter Mann, wirklich ein braver Bursche.« Dabei zupfte er nachdenklich an seinem Zachinko.

Drei Monate verstrichen. Unter Anleitung von Mathew Kershaul übte Thissell das Hymerkin, die Ganga, den Strapan, den Kiv, das Gompard und den Zachinko. Der Doppel-Kamanthil, der Krodatch, das Slobo, die Wasserflöte und einige andere konnten noch warten, meinte Kershaul, bis Thissell wenigstens die sechs Grundinstrumente beherrschte. Er lieh Thissell Aufzeichnungen von Sirenesen, die sich in verschiedenen Stimmungen und unter verschiedener Begleitung unterhielten, damit Thissell die zur Zeit üblichen melodischen Konventionen erlernen und sich in den Feinheiten der Betonung der verschiedenen Rhythmen, Gegenrhythmen, Mischrhythmen, implizierten Rhythmen und unterdrückten Rhythmen üben konnte. Kershaul erklärte, er fände die Musik von Sirene faszinierend, und Thissell mußte einräumen, daß es sich um ein Thema handelte, das nicht so schnell zu erschöpfen war. Die Vierteltonabstimmungen der Instrumente gestatteten den Gebrauch von vierundzwanzig Klangfarben, die im Verein mit den fünf allgemein benutzten Tonarten einhundertzwanzig unterschiedliche Tonleitern erlaubten. Doch Kershaul riet Thissell, daß er sich in erster Linie darauf konzentrieren solle, jedes Instrument in seiner grundsätzlichen Klangfarbe zu erlernen und dabei nur zwei Tonarten zu benutzen.

Da Thissell im Augenblick, abgesehen von den wöchentlichen Besuchen bei Mathew Kershaul, keine besonderen Aufgaben hatte, fuhr er mit dem Hausboot acht Meilen nach Süden und ging im Windschatten eines felsigen Vorgebirges vor Anker. Hier lebte er, abgesehen von den mühsamen Übungen mit den vielfältigen Musikinstrumenten, ein idyllisches Leben. Die See war ruhig und kristallklar; der Strand, gesäumt von dem grauen, grünen und purpurnen Blattwerk des Waldes, lag ganz in der Nähe, wenn er sich einmal die Beine vertreten wollte.

Toby und Rex hielten sich in zwei Kammern im Vorderschiff auf. Thissell hatte die Heckkabinen für sich. Von Zeit zu Zeit spielte er mit dem Gedanken, einen dritten Sklaven anzuschaffen, vielleicht sogar eine junge Frau, um etwas Fröhlichkeit auf das Schiff zu bringen, aber Kershaul riet davon ab, weil er befürchtete, daß dies Thissells Konzentration beeinträchtigen könnte. Thissell gab sich zufrieden und widmete sich ganz dem Studium der sechs Instrumente.

Die Tage verstrichen schnell. Thissell wurde des herrlichen Anblicks von Morgendämmerung und Sonnenuntergang nie müde; die weißen Wolken und die blaue See des Mittags, der Nachthimmel, an dem die neunundzwanzig Sterne des Sternhaufens SI 1-715 prangten. Die wöchentliche Fahrt nach Fan ließ keine Langeweile aufkommen. Toby und Rex kauften Lebensmittel; Thissell besuchte das prunkvolle Hausboot von Mathew Kershaul, um sich dort Rat und Anregung zu holen. Dann kam, drei Monate nach Thissells Ankunft, die Nachricht, die seine Routine völlig aus dem Gleichgewicht brachte: Haxo Angmark, Meuchelmörder, agent provocateur, gefährlicher, rücksichtsloser Verbrecher, war nach Sirene gekommen. Daß dieser Mann festgenommen und eingekerkert wird, stand in den Anweisungen. Achtung! Haxo Angmark ist in höchstem Grade gefährlich. Töten Sie ohne zu zögern!

Thissell war nicht in bester Kondition. Er trottete fünfzig Meter, bis sein Atem stoßend ging, dann ging er in eine langsamere Gangart über: durch flache Hügel, gekrönt von weißem Bambus und schwarzen Baumfarnen; über Wiesen, gelb von Grasnüssen, durch Obsthaine und wilde Weinberge. Zwanzig Minuten verstrichen, fünfundzwanzig Minuten, und Thissell wußte, daß er zu spät kommen würde. Haxo Angmark war gelandet und bewegte sich vielleicht auf eben dieser Straße auf Fan zu. Aber unterwegs begegnete Thissell nur vier Personen: einem Knabenkind in einer verspielt wilden Alk-Insel-Maske; zwei jungen Frauen, die den Rotvogel und den Grünvogel trugen, einem Mann, der als Waldkobold maskiert war. Als er sich dem Mann gegenübersah, blieb Thissell stehen. Ob dies Angmark war?

Thissell versuchte es mit einer List. Er ging beherzt auf den Mann zu und starrte die scheußliche Maske an. »Angmark«, rief er in der Sprache der Heimatplaneten, »Sie sind verhaftet!«

Der Waldkobold starrte ihn verständnislos an und setzte seinen Weg dann fort.

Thissell trat ihm in den Weg. Er griff nach seiner Ganga, erinnerte sich dann der Reaktion des Stallknechts und schlug statt dessen einen Akkord auf dem Zachinko an. »Ihr reist die Straße vom Raumhafen«, sang er, »was habt Ihr dort gesehen?«

Der Waldkobold griff nach seiner Handfanfare, einem Instrument, das man dazu benutzt, Gegner auf dem Schlachtfeld zu verspotten, Tiere zu rufen oder, gelegentlich, Streitsüchtigkeit an den Tag zu legen. »Wohin ich reise und was ich sehe, geht nur mich etwas an.

Geht mir aus dem Weg, oder ich trete Euch nieder!« Er ging weiter, und wäre Thissell nicht zur Seite gesprungen, so hätte der Waldkobold seine Drohung leicht wahrmachen können.

Thissell stand da und starrte ihm nach. Angmark? Nein, das war unwahrscheinlich, dazu hatte er die Handfanfare zu gut beherrscht. Thissell zögerte, drehte sich dann um und setzte seinen Weg fort.

Als er den Raumhafen erreichte, ging er direkt ins Büro. Die schwere Tür stand offen; als Thissell sich ihr näherte, erschien ein Mann im Eingang. Er trug eine Maske aus stumpfgrünen Schuppen, Glimmerplatten, blau lackiertem Holz und schwarzen Borsten – der Tarnvogel.

»Ser Rolver«, rief Thissell besorgt, »wer ist von der Carina Cruzero angekommen?«

Rolver musterte Thissell lange. »Weshalb fragen Sie?«

»Weshalb ich frage?« wiederholte Thissell. »Sie müssen doch das Astrogramm gesehen haben, das ich von Castel Cromartin bekam!«

»O ja«, sagte Rolver. »Natürlich. Freilich.«

»Es ist mir erst vor einer halben Stunde ausgehändigt worden«, sagte Thissell bitter. »Ich bin so schnell ich konnte hergekommen. Wo ist Angmark?«

»In Fan, nehme ich an«, sagte Rolver.

Thissell fluchte leise. »Warum haben Sie ihn nicht aufgehalten, ihn irgendwie festgehalten?«

Rolver zuckte die Achseln. »Ich hatte weder die Befugnis noch Lust, noch eine Möglichkeit, ihn aufzuhalten.«

Thissell unterdrückte seinen Ärger. Mit betont ruhiger Stimme sagte er: »Auf dem Weg begegnete ich einem Mann in einer ziemlich scheußlichen Maske – Augen groß wie Teller und rote Kehllappen.«

»Ein Waldkobold«, sagte Rolver. »Angmark hat diese Maske mitgebracht.«

»Aber er hat die Handfanfare vorzüglich gespielt«, protestierte Thissell. »Wie kann Angmark…«

»Er ist mit Sirene gut vertraut; er hat fünf Jahre hier in Fan gelebt.«

Thissell knurrte verärgert: »Das hat Cromartin nicht gewußt?«

»Das ist allgemein bekannt«, sagte Rolver und zuckte die Achseln. »Er war kommerzieller Delegierter hier, ehe Welibus das übernahm.«

»War er mit Welibus bekannt?«

Rolver lachte. »Natürlich. Aber Sie sollten den armen Welibus nicht verdächtigen, daß er einer größeren Gesetzesübertretung fähig wäre, höchstens eines kleinen Spesenschwindels. Ich kann Ihnen versichern, er läßt sich nicht mit Meuchelmördern ein.«

»Weil wir von Meuchelmördern sprechen«, sagte Thissell, »haben Sie eine Waffe, die ich mir ausleihen könnte?«

Rolver sah ihn verblüfft an. »Sie sind mit bloßen Händen hierhergekommen, um Angmark festzunehmen?«

»Ich hatte keine Wahl«, sagte Thissell. »Wenn Cromartin Befehle erteilt, erwartet er Resultate. Jedenfalls waren Sie mit Ihren Sklaven hier.«

»Erwarten Sie bloß von mir keine Hilfe«, sagte Rolver verdrießlich. »Ich trage den Tarnvogel und behaupte nicht, daß ich mutig wäre. Aber ich kann Ihnen eine Energiepistole leihen. Ich habe sie schon lange nicht mehr benutzt; für die Ladung übernehme ich keine Garantie.«

»Besser als gar nichts«, sagte Thissell. Rolver ging in sein Büro und kam kurz darauf mit der Waffe zurück. »Was werden Sie jetzt tun?«

Thissell schüttelte müde den Kopf. »Ich werde versuchen, Angmark in Fan zu finden. Oder meinen Sie, daß er nach Zundar gehen wird?«

Rolver überlegte. »Angmark könnte durchaus in Zundar überleben. Aber vorher will er sicherlich seine Musikkenntnisse etwas aufpolieren. Ich denke, er wird ein paar Tage in Fan bleiben.«

»Aber wie kann ich ihn finden? Wo sollte ich nachsehen?«

»Das kann ich nicht sagen«, erwiderte Rolver. »Besser wäre es für Sie, wenn Sie ihn nicht finden. Angmark ist ein gefährlicher Mann.«

Thissell kehrte auf dem Weg nach Fan zurück, den er gekommen war.

Wo der Weg von den Hügeln in die Esplanade einmündete, hatte man ein Gebäude mit dicken Mauern errichtet. Die Tür war aus einer massiven, schwarzen Planke geschnitzt; die Fenster von kunstvoll geschmiedeten Eisenbändern geschützt. Es handelte sich um das Büro von Cornely Welibus, Handelsfaktor, Importeur und Exporteur. Thissell fand Welibus auf der mit Fliesen belegten Veranda sitzend, er trug eine etwas abgewandelte Waldemarmaske. Er schien tief in Gedanken, und es war durchaus möglich, daß er Thissells Mondmotte gar nicht erkannte. Jedenfalls ließ er sich nichts anmerken und grüßte ihn auch nicht.

Thissell ging auf ihn zu. »Guten Morgen, Ser Welibus.«

Welibus nickte abwesend und sagte mit ausdrucksloser Stimme, wobei er an seinem Krodatch zupfte. »Guten Morgen.«

Thissell erschrak. Das war jedenfalls nicht das Instrument, das man gegenüber einem Freund und Landsmann benutzte, selbst wenn er die Mondmotte trug.

Thissell fragte kühl: »Darf ich fragen, seit wann Sie hier sitzen?«

Welibus überlegte eine halbe Minute lang, und als er diesmal antwortete, begleitete er seine Worte auf der etwas herzlicheren Crebarin. Aber Thissell hörte immer noch den Krodatch-Akkord.

»Seit fünfzehn oder zwanzig Minuten. Warum fragen Sie?«

»Ich hätte gerne gewußt, ob Sie einen Waldkobold gesehen haben?«

Welibus nickte. »Er ist die Esplanade hinuntergegangen – ich glaube, er ist dort in das Maskengeschäft gegangen.«

Thissell stieß zischend die Luft aus. Es war ganz logisch, daß dies Angmarks erster Schritt sein würde. »Sobald er einmal die Maske gewechselt hat, werde ich ihn nie mehr finden«, murmelte er.

»Wer ist dieser Waldkobold?« fragte Welibus mit weit mehr als nur höflichem Interesse.

Thissell sah keinen Anlaß, den Namen zu verbergen. »Ein notorischer Verbrecher: Haxo Angmark.«

»Haxo Angmark!« ächzte Welibus und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Sind Sie sicher, daß er hier ist?«

»Ziemlich sicher.«

Welibus rieb sich die zitternden Hände. »Das ist eine schlechte Nachricht, wirklich eine schlechte Nachricht! Er ist ein skrupelloser Schurke.«

»Sie haben ihn gut gekannt?«

»So gut wie jeder andere.« Welibus begleitete sich jetzt auf dem Kiv. »Er hatte den Posten, den ich jetzt innehabe. Ich kam als Inspektor hierher und stellte fest, daß er viertausend UMIs pro Monat unterschlug. Ich bin sicher, daß er mir gegenüber keine große Dankbarkeit empfindet.« Welibus blickte nervös die Esplanade hinauf. »Ich hoffe, Sie können ihn festnehmen.«

»Ich werde mir große Mühe geben. Er ist in den Maskenladen gegangen, sagen Sie?«

»Ich bin ganz sicher.«

Thissell wandte sich ab. Als er den Weg hinunterging, hörte er, wie die schwere schwarze Tür hinter ihm ins Schloß fiel.

Er ging die Esplanade zum Laden des Maskenmachers hinunter und blieb davor stehen, als bewunderte er die Auslage: Hundert Miniaturmasken, aus seltenen Hölzern und Mineralien geschnitten, mit Smaragdsplittern, Spinnwebenseide, Wespenflügeln, versteinerten Schuppen und dergleichen geschmückt. Der Laden war leer, sah man von dem Maskenmacher ab, einem knorrig wirkenden Mann in einem gelben Umhang mit einer täuschend einfachen Universalexpertenmaske, die aus über zweitausend verschiedenen Holzstücken zusammengesetzt war.

Thissell überlegte, was er sagen würde, und wie er sich begleiten sollte, und trat dann ein. Der Maskenmacher bemerkte die Mondmotte und Thissells schüchternes Auftreten und setzte seine Arbeit fort.

Thissell wählte das leichteste seiner Instrumente und strich seinen Strapan – wahrscheinlich nicht gerade die glücklichste Wahl, da das Instrument ein gewisses Maß an Herablassung vermittelte. Thissell versuchte, das auszugleichen, indem er in warmen Tönen sang und den Strapan schrullig schüttelte, als er eine falsche Note anschlug: »Es ist interessant, mit einem Fremden zu handeln; seine Gewohnheiten sind nicht vertraut, er erweckt Neugierde. Vor nicht einmal zwanzig Minuten betrat ein Fremder diesen faszinierenden Laden, um seinen faden Waldkobold gegen eine der bemerkenswerten Kreationen zu vertauschen, die hier angeboten werden.«

Der Maskenmacher sah Thissell von der Seite an und spielte eine Folge von Akkorden auf einem Instrument, das Thissell noch nie gesehen hatte, ohne etwas dazu zu sagen: ein flexibler Sack, den er in der Hand hielt und von dem drei kurze Rohre zwischen den Fingern hervorstachen. Wenn man die Luft durch den Schlitz preßte, erklang ein oboenähnlicher Ton. Thissell hatte den Eindruck, daß es sich um ein sehr schwieriges Instrument handelte, und daß der Maskenmacher es perfekt beherrschte. Für sein noch ungeschultes Ohr vermittelte die Musik ein hohes Maß an Desinteresse.

Thissell versuchte es noch einmal, betätigte mühsam den Strapan. Er sang: »Für einen Außenweltler auf einem fremden Planeten ist die Stimme eines Bewohners seiner Heimat wie Wasser für eine verdurstende Pflanze. Eine Person, die zwei solcher Personen vereinen könnte, würde in einem solchen Akte der Barmherzigkeit große Befriedigung finden.«

Der Maskenmacher befingerte seinen eigenen Strapan und entlockte ihm eine Folge von Tönen, wobei seine Finger sich schneller bewegten als das Auge zu folgen vermochte. Er sang in formellem Stil: »Ein Künstler schätzt seine Augenblicke der Konzentration; er legt keinen Wert darauf, seine Zeit darauf zu verwenden, Banalitäten mit Personen von bestenfalls durchschnittlichem Prestige auszutauschen.« Thissell versuchte, eine Gegenmelodie erklingen zu lassen, aber der Maskenmacher schlug ein paar neue Akkorde an, deren Bedeutung Thissell unbegreiflich blieb, und er fuhr fort: »In den Laden tritt eine Person, die offenkundig zum erstenmal ein Instrument von unvergleichlicher Kompliziertheit in der Hand hält, denn die Art und Weise, wie er musiziert, erfordert Kritik. Er singt von Heimweh und Sehnsucht nach dem Anblick von Seinesgleichen. Er verbirgt seinen enormen Strakh hinter einer Mondmotte, denn er spielt einem Meisterhandwerker den Strapan und singt mit herablassender Stimme. Der schöpferische, erfahrene Künstler ignoriert die Herausforderung. Er spielt ein höfliches Instrument, läßt sich nicht provozieren und vertraut darauf, daß der Fremde gehen möge.«

Thissell hob seinen Kiv. »Der edle Maskenmacher mißversteht mich völlig…«

Ein Stakkato vom Strapan des Maskenmachers unterbrach ihn. »Jetzt hält der Fremde es für richtig, das Auffassungsvermögen des Künstlers ins Lächerliche zu ziehen.«

Thissell kratzte wie wild an seinem Strapan. »Um mich vor der Hitze zu schützen, betrete ich einen kleinen, unauffälligen Maskenladen. Der Künstler, immer noch abgelenkt von der Neuheit seiner Werkzeuge, verspricht gute Entwicklung. Er arbeitet eifrig, um sein Geschick zu verbessern, so sehr, daß er sich weigert, mit Fremden zu sprechen, gleichgültig, was sie benötigen.«

Der Maskenmacher legte vorsichtig sein Schnitzwerkzeug weg. Er erhob sich, ging hinter einen Wandschirm und kehrte kurz darauf mit einer Maske aus Gold und Eisen zurück, die von simulierten Flammen umhüllt war. In einer Hand trug er ein Skaranyi, in der anderen einen Degen. Er schlug eine Folge wilder Töne an, und sang: »Selbst der berühmteste Künstler kann sein Strakh vermehren, indem er See-Ungeheuer, Nachtmänner und lästige Nichtstuer tötet. Eine solche Gelegenheit bietet sich. Der Künstler verzögert seinen Angriff um genau zehn Sekunden, weil der Beleidiger eine Mondmotte trägt.« Er wirbelte seinen Degen und ließ ihn kreisen.

Thissell zupfte verzweifelt an seinem Strapan. »Ist ein Waldkobold in den Laden gekommen? Hat er ihn mit einer neuen Maske verlassen?«

»Fünf Sekunden sind verstrichen«, sang der Maskenmacher mit monotoner Stimme.

Thissell rannte wütend hinaus. Er überquerte den Platz und sah sich nach allen Seiten um. Hunderte von Männern und Frauen schlenderten an der Pier entlang oder standen auf den Docks ihrer Hausboote, und jeder von ihnen trug eine Maske, die ausgewählt war, seine Stimmung, sein Prestige und seine besonderen Attribute auszudrücken. Überall erklangen Musikinstrumente.

Thissell wußte nicht weiter. Der Waldkobold war verschwunden. Haxo Angmark bewegte sich frei in Fan, und Thissell hatte den dringlichen Befehl von Castel Cromartin nicht ausgeführt.

Hinter ihm klangen die beiläufigen Töne eines Kiv.

»Ser Mondmotte Thissell, Ihr steht in Gedanken versunken.«

Thissell wandte sich um und sah neben sich eine Höhleneule, in einen düsteren Umhang von schwarzgrauer Farbe gehüllt. Thissell erkannte die Maske, die Bildung und die geduldige Erforschung abstrakter Ideen symbolisierte; Mathew Kershaul hatte sie getragen, als sie sich vor einer Woche begegnet waren.

»Guten Morgen, Ser Kershaul«, murmelte Thissell.

»Und was machen die Studien? Haben Sie die Cis-Tonleiter auf dem Gomapard gelernt? Wie ich mich erinnere, hatten Sie Schwierigkeiten mit diesen Intervallen.«

»Ich habe an ihnen gearbeitet«, sagte Thissell mit niedergeschlagener Stimme. »Aber da man mich wahrscheinlich nach Polypolis zurückrufen wird, wird das Ganze sich vielleicht als Zeitvergeudung erweisen.«

»Hm? Wieso das?«

Thissell erklärte die Situation, die sich in bezug auf Haxo Angmark ergeben hatte. Kershaul nickte ernst. »Ich erinnere mich an Angmark. Keine sympathische Person, aber ein ausgezeichneter Musiker mit schnellen Fingern und einem echten Talent für neue Instrumente.« Er zupfte nachdenklich am Spitzbart seiner Höhleneulenmaske. »Was sind Ihre Pläne?«

»Es gibt keine«, sagte Thissell und entlockte seinem Kiv ein paar klagende Töne. »Ich habe keine Ahnung, was für Masken er tragen wird, und wenn ich nicht weiß, wie er aussieht, wie kann ich ihn dann finden?«

Kershaul zupfte an seinem Bart. »Früher bevorzugte er den Exo-Cambischen Zyklus, und ich glaube, er hat damals eine ganze Reihe der Bewohner der Unterwelt benutzt. Aber sein Geschmack kann sich heute geändert haben.«

»Genau«, beklagte sich Thissell. »Er könnte zwanzig Schritte von mir entfernt sein, und ich würde es nicht wissen.« Er blickte bitter über die Esplanade zum Laden des Maskenmachers hinüber. »Niemand will mir etwas sagen; ich bezweifle, daß es denen etwas ausmacht, ob ein Mörder in ihrer Stadt unterwegs ist.«

»Völlig richtig«, pflichtete Kershaul ihm bei. »Sirene hat völlig andere Maßstäbe als wir.«

»Sie besitzen kein Verantwortungsgefühl«, erklärte Thissell. »Ich bezweifle, daß sie einem Ertrinkenden ein Seil zuwerfen würden.«

»Es ist wahr, daß sie es nicht mögen, wenn man sich einmischt«, pflichtete Kershaul ihm bei. »Sie betonen die Verantwortung des Individuums.«

»Interessant«, sagte Thissell, »aber ich weiß immer noch nicht weiter.«

Kershaul musterte ihn ernst. »Und wenn Sie Angmark finden sollten, was werden Sie dann tun?«

»Die Befehle meines Vorgesetzten ausführen«, sagte Thissell hartnäckig.